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Offener Unterricht --
Offenes Lernen

Konzepte

Letzte Änderung: 1.5.2005
© Georg Lind

Literatur

 

Der Begriff "offener Unterricht" scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein, aber eben nur "scheint". Dem modernen Verständnis vom Lehrer als Arrangeur von förderlichen Lernumwelten (der sich nicht mehr als "Wissensvermittler" oder "Lehrplanexekuteur" versteht) entspricht auch ein neuer Begriff des Unterrichts. Es scheint müsig, deshalb für "Lehrer" und "Unterricht" nach neuen Begriffen zu suchen. Vielmehr sollten wir diese Begriffe heute inhaltlich neu füllen.

"Offener Unterricht" will das, was große Pädagogen mit anderen Worten schon lange fordern: "kindzentrierter Unterricht", "selbst lernen", "Lernen als aktiver Prozess" etc.

Neu erscheint mir die Tatsache, dass beim Offenen Unterricht mit diesen Forderungen kompetent und konsequent ernst gemacht wird, ohne in der Phase von hochtrabenden Ankündigungen stehen zu bleiben.

Dabei sind zwei Missverständnisse zu vermeiden:

  • "Viele PädagogInnen verstehen Offenen Unterricht sehr eng (und überschätzen damit die erreichten Öffnungsgrade, vgl. die Differenz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung in der Untersuchung von Hanke 1996, 34). Sie sehen Öffnung nur methodisch-organisatorisch, d. h. als eine Form der inneren Differenzierung, und verlagern die Steuerung des Lernens aus ihrer Person lediglich in das Material (s. auch Peschel 1995/96).
  • Andere, vor allem KritikerInnen der Öffnung fassen sie zu weit. Sie unterstellen, jedes Kind könne im Offenen Unterricht machen, was es wolle, und die Lehrerin gucke nur zu. Überdies werde das heute besonders wichtige soziale Lernen auf dem Altar verabsolutierter Individualisierung geopfert." (Brügelmann, 2003, siehe unten).

Zu dem Konzept des Offenen Unterrichts liegen inzwischen hervorragende Studien, schulpraktische Erprobungen und Anleitungen für die Einführung und Umsetzung dieses Konzepts vor (siehe u.a. Brügelmann, 2001; Peschel, 2003a, 2003b, Web; Zehnpfennig & Zehnpfennig, 2002).

Für Lehrerinnen und Lehrer, die sich für dieses Konzept interessieren, sei gesagt, dass es anspruchsvoll ist und neben guten Fachkenntnissen auf den den Gebieten, die man unterrichtet, gutes pädagogisch-psychologisches Wissen und eine hohe eigene Lernbereitschaft voraussetzt. Offener Unterricht ist kein laissez faire -Unterricht, bei dem man die Schüler einfach sich selbst überlassen kann.

Erfahrungen und Studien zu Umsetzungen liegen, soweit ich weiß, inzwischen auf allen Stufen vor: Kindergarten, Grundschule, Sekundarschule und Hochschule. Weit fortgeschrittene und verbreitete Ansätze zur Öffnung der Schule gab es aber auch schon früher. So haben bereits in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zahlreiche Schulen in den USA auf Anregung des amerikanischen Pädagogen und Psychologen John Dewey hin offene Unterrichtsformen eingeführt. In einer umfangreichen Längsschnittstudie (die unter dem Namen "Acht-Jahre-Studie" bekannt wurde) wurde der weitere Bildungsweg dieser Schüler auf dem College mit vergleichbaren Schülergenerationen verglichen (Chamberlin et al., 1942; siehe unten).

Bildungspolitische Konsequenzen

Offenes Lernen und Offener Unterricht müssen bildungspolitischer Neuerungen abgesichert werden, vor allem durch "Bildungsstandards von unten" (Brügelmann, 2005).

   

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Kindergarten:

In Deutschland arbeiten zur Zeit schätzungsweise 10.000 Kindergärten mit dem Konzept der offenen Arbeit, allerdings auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Einer der Promoter ist Dr. Axel Wieland, Universität Oldenbourg (axel.wieland#uni-oldenburg.de). In Konstanz haben inzwischen alle städtischen Kindergärten das Konzept weitgehend umgesetzt. Von einigen Kindergärten weiß ich, dass inzwischen auch Informationskontakte zu den aufnehmenden Grundschulen aufgenommen wurden.

Mein persönlicher Eindruck: Die Kinder sprechen fast ausnahmslos positiv auf die Offene Arbeit an, bei der sie gemäß ihrer Neigungen und in ihrem eigenen Rhythmus spielend lernen und arbeiten können. Auch die meisten Eltern scheinen davon angetan zu sein, nachdem sie, wie ich auch, anfangs skeptisch waren, ob das funktionieren kann. Gerade bei sogenannten schwierigen Kindern hat das Konzept der offenen Arbeit offenbar sehr gute Erfolge vorzuweisen. Ich habe das als Vater eines solchen Kindes selbst erfahren können. Viele der Befürchtungen haben sich als haltlos erwiesen: Kinder bleiben nicht passiv, wenn man sie nicht anschiebt; Kinder entwickeln keine Tendenz zu einseitigen Beschäftigungen. Besonders positiv wirkt sich der Ansatz auf die ErzieherInnen aus: sie können jetzt mehr ihre Stärken einbringen und müssen keine Allrounder sein. Allerdings: Offene Arbeit stellt hohe Anforderungen an die Leitung der Kindergärten und an die ErzieherInnen. (Regel & Wieland, 1993; siehe Link auf Textor, Fromme, Gemeinde Hude,

 

Grundschule:

Nach Einschätzung von Prof. Hans Brügelmann (persönliche Mitteilung), Universität siegen, gibt es in 5 - 10 % der Grundschulen in Deutschland bereits Erfahrungen mit offenem Unterricht. In älteren Evaluationsstudien haben sich offene Unterrichtsformen nicht als überlegen gezeigt, was das akademische Lernen angeht, aber auch nicht als schädlich. Deutlich überlegen sind sie jedoch auch in älteren Studien hinsichtlich sozialen und demokratischen Lernens. Die älteren Studien leiden aber an mehrern methodischen Schwächen: vor zehn Jahren gab es noch kaum offenen Unterricht, wenn man von stark eingeschränkten Formen absieht wie Freiarbeit und Montessori-Arbeit; die Evaluationsinstrument waren oft nicht geeignet, die spezifischen Vorteile offener Arbeit darzustellen.

In einer neuen, sehr intensiven Evaluationsstudie einer Grundschulklasse über vier Jahre hinweg zeigt Peschel, dass auch im akademischen Bereich der offene Unterricht positive Effekte hat. Die Kinder übertreffen die Normwerte im Rechnen, Lesen und Rechtschreiben. (Brügelmann, Peschel, 2003a; 2003b; Zehnpfennig & Zahnpfennig, 2002; nähere Angaben und weitere Literatur, siehe unten).

 

Sekundarschule:

Hierzu liegen viele Modelle vor, die einzelne Aspekte des offenen Unterrichts realisieren (u.a. Montessorie-Schulen, Laborschule, Freiarbeit), aber nicht ganz offen sind.
Am konsequentesten wurde offener Unterricht in den 30er Jahren in den USA mit den "Progressive Schools" nach der Schultheorie von John Dewey umgesetzt. Zu dieser Umsetzung gab es auch die größte Evaluationsstudie, deren Rezeption allerdings durch den Zweiten Weltkrieg stark behindert wurde. Eine große Anzahl von Absolventen dieser Schulen wurde über acht Jahre hinweg während ihrer College-Zeit untersucht. Es zeigt sich, dass diese Schüler nicht schlechter, sondern eher besser und lieber lernten und mit besseren Noten abschnitten als Absolventen "normaler" Schulen (Chamberlin et al. 1942). Bei den "offenen" Schulen handelte es sich in der Regel nicht um private Schulen mit einem besonderen Klientel, sondern um normale, öffentliche Schulen.

Wie sieht es heute bei uns aus? Thorsten Bohl (Uni Tübingen, PH Weingarten) schätzt die Zahl der Realschulen mit offenen Unterrichtselementen auf 5 - 10 %. Zu den Gymnasien sind mir keine Zahlen bekannt; sie dürften ähnlich liegen. Im Oberschulamtsbezirk Freiburg gibt es eine Multiplikatorengruppe "Offener Unterricht" (http://www.osa.fr.bw.schule.de/gym/schulent/multis/multi.htm). Parallel dazu macht man sich Gedanken, wie offener Unterricht evaluiert und benotet werden kann: "Neue Unterrichtsformen und Leistungsbeurteilung Beobachtungsfelder und Beurteilungskriterien". Bewertungskriterien sind u.a.:

PlanenEigeninitiativeKommunikationTeamworkPräsentation
Auswahl 
Strukturierung komplexer Zusammenhänge
Definierung eigener ZieleVerständliche Darstellung von SachverhaltenAufgreifen von Vorschlägen andererRedegewandtheit, freies Sprechen
Zielorientierungselbständige Lösungsvorschlägeaktives ZuhörenFeedback, RollenübernahmeSicherheit des Auftretens
kreative Lösungenstellt sich selbst Aufgabenaktives NachfragenOffenheit bei Problemen Präzision der Darstellung
Entwicklung von TeilschrittenBeharrlichkeit und FrustrationKontakte aufrechterhaltenAkzeptieren der Gruppenentscheidung, Konflikt- und KompromißfähigkeitSicherheit bei der Beantwotung von Nachfragen
AspektenvielfaltVertreten eines eigenen StandpunktesEinbringen eigener IdeenMonologische bzw. dialogische KommunikationTransferfähigkeit
Realisierung 
- Verbindlichkeit 
- Flexibilität
KreativitätBelastbarkeitEntscheidungsfähigkeit, Übernahme von VerantwortungMediale Unterstützung, Visualisierung, Vereinfachung

(Quelle: © Oberschulamt Freiburg, 1998 ... mehr).

 

"Offener Unterricht" an Gymnasien im Web (ohne Gewähr):

Kultusministerium Baden-Württemberg: Selbstorganisiertes Lernen ... mehr

Überblick über "offener Unterricht" in den Lehrplänen Deutschlands ... mehr (Suchbegriff eingeben!)

Kultusministerium Niedersachsen ... mehr

Johanneum Gymnasium, Lüneburg ... mehr

Elsa-Brändström-Gymnasium, Oberhausen... mehr

Carl-von-Ossietzki-Gymnasium, Hamburg ... mehr

Julius-Leber-Schule, Hamburg ... mehr

Adalbert-Stifeter-Gymnasium, Passau ... mehr (Gerhard Wagner: Fazit | Kopie)

K.R.Ä.T.Z.E: Sudbury Valley Schools ... mehr

 

4. Hochschule:

Die Hochschulen sollen nach Humboldt der Idealfall des Offenen Unterrichts sein. Mit der HochschuleREIFE (in Österreich: Matura) wird dem Lernenden attestiert, das er oder sie fähig sind, selbstständig zu lernen. Tatsächlich war das Studium noch vor wenigen Jahrenin vielen Fächern weitgehend der Eigenorganisation der Studierenden überlassen. Auf Lernanreize wie Klausuren und benotete Scheine im Studium wurde weitgehend verzichtet (leider wurde dabei oft auch auf jede Art von Didaktik und Aufbereitung des Lehrstoffs verzichtet). Mit dem immer stärker werdenden Druck, die Studienzeiten zu verkürzen und Studienabbruchquoten zu verringern, wurde das Studium an den Universitäten aber immer mehr in starre Bahnen gelenkt. Inzwischen muss man von den Hochschulen wohl sagen, dass sie zur eigentlichen Hochburg eines "Geschlossenen Unterrichts" geworden sind: Immer weniger Veranstaltungen dürfen ohne Prüfungen und Benotungen belegt werden; immer häufiger und in immer kürzeren Abständen müssen sich Studierende heute Prüfungen stellen, die nicht so sehr der Lernrückmeldung als der Sanktionierung dienen, damit die Studierenden nicht von den vorgeschriebenen Lernwegen abweichen.

In meiner eigenen Lehre mache ich die Erfahrung, dass die meisten Studierende mehr und besser lernen, wenn das Lernen weniger uniformiert ist und am Ende einer Veranstaltung keine Prüfungen stehen. Prüfungen scheinen auf beiden Seiten sehr viel Energie zu binden, die dem Lernen abgeht. Seit einigen Jahren räume ich den Kursteilnehmern immer Gelegenheiten ein, Inhalte und Geschwindigkeiten zu bestimmen. Das Interesse der Studierenden am Stoff wächst dadurch zusehends und auch der Lernerfolg.

Offenes Studium kann natürlich nicht heißen, dass der Lehrende nichts mehr zu tun hat. Im Gegenteil: der Aufwand ist oft höher, da man als Lehrender umso mehr Alternativen bieten und bereit halten muss als man den "Lehrplan" für die eigenverantwortliche Gestaltung des Studiums durch die Studierenden öffnet.

GL


 

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