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Lind, G. (1987). Kohlberg auf dem Prüfstand — Ein fiktives Gespräch über Schule, Demokratie und kognitiv-moralische Entwicklung. [Benchmarking Kohlberg — A fictitious conversation on schools, democracy and cognitive-moral development]. In G. Lind & J. Raschert, Eds., Moralische Urteilsfähigkeit. Weinheim: Beltz, pp. 93-111.
"Im
Mittelpunkt dieses Bandes steht die These, dass Erziehung und Demokratie
sich wechselseitig bedingen: Gelingende Erziehungsprozesse sind eine notwendige
Bedingung für die Realisierung einer demokratischen Gesellschaft;
eine demokratische Verfassung der Gesellschaft ist eine notwendige Bedingung
für gelingende Erziehungsprozesse in der Schule. ...
Wie kann die Schule diese ihre Aufgabe erfüllen? Kann sie dies am
besten, indem sie den Heranwachsenden möglichst umfassend mit den
Werten und Normen der Gesellschaft vertraut macht und deren Einhaltung
durch Sanktionen erzwingt? Oder kann sie auf die demokratische Lebensform
besser vorbereiten, wenn sie möglichst wenig Normen vorgibt und Sanktionen
in der Schule vermeidet? Dem einen wie dem anderen Weg sind enge Grenzen
gesteckt und es wird bezweifelt, daß einer von beiden wirklich auf
die Lebensform der Demokratie vorbereiten kann. Brauchen wir nicht eher
eine dritte Art von Erziehung in der Schule, eine, die dem Lernenden ein
Maximum an intellektueller Verantwortung für den eigenen Lernprozeß
einräumt und abfordert? Ein Schulleben und eine Schulgemeinschaft,
die den Lernenden ein hohes Maß an Bewußtheit in Selbst- und
Mitbestimmung vermitteln und abverlangen? Der amerikanische Pädagoge
Lawrence Kohlberg, der an die Überlegungen von Dewey und dem Schweizer
Psychologen Jean Piaget anknüpft, hat mit seiner Theorie der moralisch-kognitiven
Entwicklung die Diskussion über das Verhältnis von Erziehung
und Demokratie neu belebt. Für Kohlberg ist moralische Urteilsfähigkeit
ein Schlüsselthema für Erziehung wie für Demokratie. Er
nimmt an, daß die moralische Entwicklung nicht durch die bloße
Übernahme von moralischen Begriffen und Haltungen gefördert
werden kann, sondern nur durch die diskursive Verarbeitung von Problemen,
die bei der Verwirklichung moralischer Prinzipien im Alltag, auch im schulischen
Alltag, entstehen. Allgemeine moralische Prinzipien können nur durch
ihre Anwendung in konkreten sozialen Kontexten verstanden und gelernt
werden. Moralische Urteilsfähigkeit entwickelt sich nur durch die
Bewältigung von Konflikten, auch von Konflikten und Problemen in
und mit der Schule, die ein Teil der Gesellschaft und unseres Lebens ist.
Demokratische Teilhabe an dem Prozeß der Erziehung ist, so Kohlberg,
zugleich Ziel und Bedingung für dessen Gelingen.
Die Theorie Kohlbergs hat in den letzten Jahren in einer Vielzahl von
wissenschaftlichen und empirischen Arbeiten Bestätigung gefunden,
und zwar nicht nur in psychologischen Experimenten, sondern auch in einer
Reihe von schulischen Erprobungen in den Vereinigten Staaten. Es kann
daher nicht überraschen, daß sie auch hierzulande als Chance
begriffen wird, der festgefahrenen Diskussion über Erziehung und
Demokratie in der Schule eine konstruktive Wende zu geben. Durch seine
Einladung an Professor Kohlberg und dessen Kollegin Dr. Ann Higgins, die
Theorie der moralisch-demokratischen Erziehung und die bisherigen schulpraktischen
Erfahrungen im Rahmen eines mehrtägigen Besuchs hier zur Diskussion
zu stellen, hat der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Hans
Schwier, im Frühjahr 1985 in Düsseldorf eine einzigartige Gelegenheit
zum Austausch mit deutschen Erziehungswissenschaftlern, Lehrern und Bildungspolitikern
geschaffen. Lawrence Kohlberg und Ann Higgins haben sich während
dieses Besuchs nicht nur der kritischen Diskussion gestellt, sondern selbst
Einblick in die Schulen unseres Landes gewonnen.
Der Besuch Kohlbergs hatte schon vor der Tagung in Düsseldorf ein
breites Interesse gefunden. Mit diesem Band wollen wir das Ergebnis dieser
Tagung der Öffentlichkeit vorstellen. Der erste Teil enthält
die beiden Hauptvorträge von Lawrence Kohlberg und Ann Higgins über
die Kognitive Theorie der Moralentwicklung und den pädagogischen
Ansatz der "gerechten Gemeinschaft" (just community) sowie die
Einleitung des Kultusministers, Hans Schwier, die einführenden Referate
von Gertrud Nunner-Winkler und Fritz Oser und die Diskussionsbeiträge
des Plenums. Alle Beiträge sind für diese Veröffentlichung
von den Autoren bearbeitet und ergänzt worden." (Vorwort der
Herausgeber)
Die Texte in diesem
Buch waren der Start für das schulpraktische Erprobungsprojekt "Demokratie
und Erziehung in der Schule " (DES), das von den Herausgebern initiiert
wurde und zu dem inzwischen mehrere Erfahrungs- und Evaluationsberichte
vorliegen, u.a. Lind (2002).
The texts in this
book started the school intervention project "Democracy and Education
in Schools" (DES), which had been initiated by the editors and for
which a number of reports are available by now, e.g., Lind
(2002).
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