Wartezeit-Regel:

Erfahrungsbericht eines Lehrers

 

Für die Supervision konnte ich Herrn Schnurr, den Fachvertreter für Englisch an unserer Schule gewinnen, der außerdem die Klasse als früherer Englischlehrer gut kennt. Gegenstand der Observation waren die Fragetechnik des Unterrichtenden unter besonderer Berücksichtigung der wait-time von 3 Sekunden und der immer wieder notwendige Einschub von Pausen, die den Schülern eine Synchronisierung ihrer von unterschiedlichem Lerntempo geprägten Lernprozesse erlauben sollen. Letzteres dürfte bei dieser als 'schwierig' geltenden, in verschiedene Grüppchen aufgespaltenen und leistungsmäßig sehr heterogenen Klasse besonders wichtig sein. Da diese Stunde schon am Schuljahrsende, genauer gesagt zwischen dem Jahresschulausflug (Dienstag) und dem Aachbadsportfest (Donnerstag) lag, sollte darauf verzichtet werden, mit den Schülern lexikalisches und grammatisches Neuland zu betreten. Vielmehr sollten ihnen möglichst viele Sprechanlässe geboten werden, sie sollten anhand einer für ihr Sprachniveau anspruchsvollen englischen Kriminalgeschichte kursorisches Lesen lernen und Gelegenheit zur teilweise selbständigen Erarbeitung des Stoffes erhalten. Da die Fragetechnik des Lehrers auf dem Prüfstand war, bot sich für diese Stunde als Unterrichtsform ein teils lehrer-, teils schülerzentrierter Frontalunterricht an.

Vor der Stunde führten Herr Schnurr und ich ein Gespräch (pre-conference) über die Ziele der Supervision für diese Stunde. Ich brachte ihm gegenüber meine Gefühle zum Ausdruck, z.B. dass es mich eine gewisse Überwindung koste, mir von einem Kollegen in die Karten blicken zu lassen. Die Tatsache, dass wir uns menschlich und kollegial gut verstehen und ich bei ihm von einem gewissen Wohlwollen ausgehen kann, trug zu meiner Erleichterung bei.

Unterrichtsverlauf:
1. Unter Mitarbeit der Schüler kurze Einführung sinntragender Vokabeln aus den Wortfeldern Medizin und Verbrechen, da in unserer Geschichte Mrs. Bakers Silver, von Cyril Hare, ein Arzt nach einem Einbruch in das Haus eines Patienten als Verdächtiger gilt.
2. Lehrer und Schüler lesen den 1. Teil der Geschichte gemeinsam; die Schüler schlagen die Kriterien vor, nach denen dieser Teil der Geschichte erschlossen werden kann, und setzen dies dann in die Praxis um.
3. Danach wird versucht, in kleinen Schritten die Auffassung der Schüler zur obigen Frage mit Textstellen zu belegen, so dass zum Schluss eine relativ schlüssige Kette von Argumenten von Seiten der Schüler erarbeitet ist.
Hausaufgabe: Write a short paragraph on What makes Dr. Faraday look like a suspect?
Damit schloss die Stunde ab. Die Schüler hatten ausgesprochen gut mitgearbeitet.

Nach der Stunde unterhielt ich mich mit einigen Schülern über die Frage, ob ihnen etwas an der Stunde aufgefallen sei. Die Schüler meinten, es sei leiser als sonst gewesen, was sie auf die Anwesenheit von Herrn Schnurr zurückführten. Es fiel ihnen auf, dass ausschließlicher als sonst nur Englisch zur Semantisierung zugelassen wurde. Einige bemerkten, sie hätten, abweichend vom üblichen Schema, sich die Geschichte selbst erschließen und interpretieren "müssen". Meine Frage, ob ihnen meine bewussten Bemühungen um Einhaltung der Wait-time-Regel aufgefallen wären, beschieden sie negativ und versicherten mir, ich würde ihnen grundsätzlich genügend Zeit zum Nachdenken geben: zwar nicht bei der Überprüfung ihres Vokabelwissens, aber immer bei komplexeren Fragestellungen. Herr Schnurr bestätigte mir im Nachgespräch (post-conference), dass ich mich bis auf eine Ausnahme an die 3-Sekunden-Regel gehalten hätte. Dies kam ihm aber, der mich von vielen gemeinsamen mündlichen Abiturprüfungen kennt, unnatürlich und aufgesetzt vor. (In der Vergangenheit war ich als Lehrer sicher temperamentvoller als heute.) Als möglichen Nachteil der strikten Befolgung der wait-time sah er die Gefahr, dass damit gelegentlich – vor allem in den unteren Klassen – die Spannung aus dem Unterricht genommen werden kann und ein notwendiger Wechsel des Unterrichtstempos nur schwer zu bewerkstelligen ist. Er lobte die breitgestreute, gute Mitarbeit der Klasse, und empfahl mir, in noch stärkerem Maße für eine gute Streuung der Schülerbeiträge zu sorgen. Herr Schnurr und ich haben ins Auge gefasst, im nächsten Schuljahr ein Tandem zur gegenseitigen Supervision zu bilden.

26.07.2000 Johannes Nesges und Hans Peter Schnurr, Hegau-Gymnasium, Singen