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Pädagogisches Zentrum Rheinland-Pfalz

Stand 1.9.1999

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Inhalt PN 2/99

Offener Mathematikunterricht und Schulbuch

 

Kurt Vogelsberger / Rainer Vicari

 

Offener Mathematikunterricht? - Unmöglich! Geht nicht!"

Traditioneller Mathematikunterricht r

Offener Mathematikunterricht

Konstituierende Elemente eines offenen Mathematikunterrichts

Das Schulbuch im offenen Unterricht

Das Schulbuch als Arbeitsbuch

Gliederung und Layout

Denkanstöße und Aufgaben

Sprache und Logik

Lehrplankonformität

Modernität

 

„Offener Mathematikunterricht? - Unmöglich! Geht nicht!"

Vor einigen Jahren, als die Gurus offenen Unterrichts Scharen von Anhängern um sich zu sammeln begannen, hatten wir ein permanent schlechtes Gewissen und das Gefühl, die moderne Pädagogik sei an uns und der Mathematik vorübergegangen. In Deutsch und Sozialkunde, da gab es Gruppenarbeit, Diskussion, Textarbeit, Fishbowl, Stationengespräch, Punktabfragen, Kugellager, ... (und was die dort noch alles erfunden hatten), und uns war relativ unklar, wie wir das im Fach Mathematik realisieren sollten...

Die Strahlensätze diskutieren zu lassen, schien uns doch arg abwegig, und schöne mathematische Projekte scheiterten am Stoffpensum, am Zeitbedarf oder am Lehrplan.

Zum Glück wurde aber von der Mathematik nichts gefordert, weil sogar manche Verfechter offenen Unterrichts die Offenheit mit der notwendigerweise strengen und damit auch engen mathematischen Logik nicht so recht in Einklang zu bringen vermochten.1

Aber nach vielem Nachdenken und langen Diskussionen sind wir zur Überzeugung gekommen, dass Offenheit und Strenge sich keineswegs ausschließen. Jetzt wissen wir, wie's geht, und das wollen wir hier im Zusammenhang mit der Rolle des Schulbuchs darstellen.

Der Deutlichkeit wegen beginnen wir aber mit dem Kontrapunkt „Traditioneller Mathematikunterricht" und zeigen kurz seine charakteristischen Kennzeichen auf.

 

Traditioneller Mathematikunterricht

Im „traditionellen" Mathematikunterricht (MU) nimmt die Lehrkraft eine zentrale Rolle ein; wesentliche Impulse gehen von ihr aus; es wird etwas „gelehrt". Ein guter Mathematiklehrer ist jener, der gut erklären kann. Es wird erklärt und dann geübt, zunächst vorgemacht und dann nachgemacht.

Die Didaktik ist von den Aufgaben her determiniert; einer oder mehrerer Einstiegsaufgaben folgt eine Vielzahl weiterer Aufgaben unterschiedlichen und sich steigernden Schwierigkeitsgrades; die Schülerinnen und Schüler werden im Grunde examiniert, ob sie das „gerafft" haben. Das Schulbuch findet im Wesentlichen nur Verwendung als Aufgaben-Pool (Hausaufgaben Seite ... Nummer ...). Und mit den im Buch enthaltenen Lehrtexten wird kaum gearbeitet.

Das ist auch der Grund, weswegen die Qualiät eines Schulbuchs von den Lehrkräften oft sehr stark vom Aufgabenmaterial her beurteilt wird. Es müssen genügend Aufgaben angeboten werden, und das Lösungsbuch muss gut und möglichst fehlerfrei sein.

Insgesamt wird jedenfalls den Lernenden eine eher passive Rolle zugewiesen, und die (angeblich) strenge Logik der Mathematik ist bezüglich offener Formen gleichsam kontraproduktiv.

Typische Kennzeichen des traditionellen Mathematikunterrichts:

· Lehrstunde;

· Mathe als „Fertigprodukt";

· Aufgabendidaktik;

· Schulbuch als Aufgaben-Pool;

· Struktur: vormachen -> nachmachen
erklären -> üben;

· „gute" Lehrerinnen oder Lehrer sind jene, die „gut erklären" können;

· passive Rolle der Lernenden;

· Strenge Logik versus Offenheit.

 

Offener Mathematikunterricht

Und jetzt zu unseren Vorstellungen eines „Offenen" Mathematikunterrichts: Bevor wir diesen charakterisieren, wollen wir, damit's nicht zu theoretisch wird, ein erstes Beispiel geben dafür, wie die Schülerinnen und Schüler stärker an der didaktischen Konzeption des Unterrichts beteiligt werden können.

Zu Beginn eines jeden Schuljahres fertigt die Lehrkraft mit der Klasse einen „Arbeitsplan" für das ganze Schuljahr an. Ausgehend vom Lehrplan und den dortigen Zeitansätzen und dem Kalendarium des Schuljahres erstellen Lehrer und Schüler gemeinsam ein grobes Konzept für den Unterricht. In der Endfassung, die als Plakat im Klassensaal aushängt, sind die Lernsequenzen des Lehrplans über das Schuljahr verteilt, Termine für die Klassenarbeiten eingetragen usw. Schülerinnen und Schüler informieren via Kurzreferat ihre Mitschüler, worum's denn bei den Themenbereichen so geht.

Das Maß der Beteiligung der Lerngruppe an der Erstellung dieser Grobverteilung hängt natürlich von der Altersgruppe ab, und die Schüler müssen mit dieser Vorgehensweise erst vertraut gemacht werden.

Und dieses Vorgehen kann sogar beibehalten werden, wenn eine neue Unterrichtseinheit ansteht. Anhand des Schulbuches verschaffen wir uns einen Überblick, welche Teilthemen wir bearbeiten müssen. Die Klasse fertigt Kartonstreifen, auf denen die Überschriften vermerkt sind, die dann in den drei Rubriken „... schon erledigt", „... was noch zu tun ist" und „... woran wir gerade arbeiten" nach jeweils aktuellem Stand aufgehängt sind.

Vogelsberger,1999

Außerdem gibt es eine Zeitleiste, und zu jedem bearbeiteten Thema werden Spezialisten benannt, die sich dort besonders gut auskennen, z B. dadurch, dass sie referiert, in anderen Schulbüchern und in Mathe-Zeitschriften usw. nachgelesen, sich also weitergehend sachkundig gemacht haben.

Die Auseinandersetzung z. B. mit anderen Schulbüchern öffnet zugleich die engen Grenzen, die ein einzelnes Lehrbuch notwendigerweise setzen muss. In unserer Mathe-Bibliothek im Klassensaal stehen zu diesem Zweck unter anderem alle zugelassenen Lehrbücher der betreffenden Klassenstufe.

Die Absicht ist, Schülerinnen und Schüler aus ihrer duldsam-passiven Rolle und dem „Schubladendenken" einzelner Unterrichtsstunden herauszulösen und an der Verantwortung für die didaktische Logistik des Unterrichts zu beteiligen, indem sie wenigstens den jeweiligen Kontext überschauen.

Auch wenn Sie, liebe Leser, skeptisch sein mögen - es funktioniert! Selbstverständlich ist das Maß der Beteiligung und Verantwortung altersstufengerecht zu setzen.

Wir möchten an die mögliche Skepsis eine ganz grundsätzliche These anknüpfen: Wenn man sich in der mathematischen Schullandschaft umschaut, registriert man vielerorts immer lauter werdende Klagen wie „Die werden immer schlechter ..." oder „Wenn ich die Arbeit von vor 5 Jahren heute schreiben würde - mein Gott ...".

In Konsequenz dessen und aus der Not heraus werden die Häppchen in noch kleinere Portionen geteilt, noch besser vorgekaut - um letztlich festzustellen, dass es doch nichts fruchtet.

Wir denken, genau der entgegengesetzte Weg muss beschritten werden, um aus diesem Dilemma herauszukommen. Wir müssen den Schülerinnen und Schülern wieder mehr zutrauen: die Häppchen nicht kleiner, sondern größer machen, sie in die Verantwortung nehmen, aus der Konsumentenhaltung und dem Konsum von „Fertigprodukten" herauslösen.

Nicht nur Sachkompetenz, sondern auch Sozialkompetenz und insbesondere Methodenkompetenz sollten wir anstreben, und zwar Methodenkompetenz in Bezug auf Fachmethodik wie auch auf Methoden des geistigen Arbeitens und des Lernens.

Das hört sich an, als sei Revolutionäres zu bewerkstelligen. Das ist es nicht, oder besser gesagt, zunächst nicht. Denn auch hier möchten wir dafür plädieren, „kleine Brötchen zu backen", bescheidene Anfänge zu suchen, kleine Schritte zu gehen, nicht von heute auf morgen alles anders machen zu wollen und Misserfolge einzukalkulieren und zu ertragen bereit sein. nterrichtsfächer


Konstituierende Elemente eines offenen Mathematikunterrichts

Betrachtet man die konstituierenden Elemente des Unterrichts, so erhält man vielerlei Anregungen, was denn „offener" sein kann, wie enge Grenzen verlassen werden könnten.

inhaltlich...

Statt Themenfolgen nach Buch oder Lehrplan und der enzyklopädischen Anhäufung von Wissen und dem Füllen des Wissensrucksacks: Themenfolgen nach Sinnzusammenhang, nach Bedürfnis, nach aktuellen Angeboten, nach mathematischen Strukturen und Leitbegriffen, projektartig angelegt.

didaktisch...

Statt Ablauf nach Buch oder tradiertem Konzept oder festem logischem Gefüge: Ablauf nach genetischen Zusammenhängen, nach eigener Wahl in Freiarbeit, in größeren Kontexten in Projekten (wenn z. B. im Schulbuch die grafische Lösung quadratischer Gleichungen behandelt wird, braucht man die Parabel; deswegen steht sie im Buch vorneweg; von der Lernpsychologie her ist dies aber nicht unbedingt eine sinnvolle Abfolge: was später gebraucht wird, muss nicht vorher behandelt sein, sondern wird erst dann betrachtet, wenn's eben gebraucht wird). Die Didaktik des Schulbuches ist also im Allgemeinen nicht deckungsgleich mit der Didaktik des Unterrichts.

methodisch...

Statt Lehrervortrag, statt Erklären und Vormachen, statt „Erarbeitungsunterricht": Entdeckendes Lernen und Selbsttätigkeit, Variation von Arbeitsmaterialien und Arbeitsformen. Hier sei etwa auf die Möglichkeit hingewiesen, geeignete Stoffgebiete teilweise im Gruppenreferat erarbeiten zu lassen. 2

Sozialform...

Statt lehrerzentriertem Frontalunterricht: Zurückziehen der Lehrkraft (es gibt z. B. „Rotlichtphasen"); der Lehrer organisiert, moderiert, stellt Lernarrangements zur Verfügung. Nicht der Lehrkraft, sondern den Schülerinnen und Schülern soll der Schweiß auf der Stirn stehen. Wenn bei den Schülern geschäftiges Treiben herrscht, hat die Lehrkraft Zeit, Dinge zu erledigen - z. B. zu helfen, zu bewerten, - zu denen sie sonst kaum kommt, wenn sie die ganze Stunde als „der große Zampano" vorne agiert und für alles und jedes zuständig und verantwortlich ist.

Ort...

Statt feste Sitzordnung in immer demselben Saal: arbeits- und sozialformgerechte Sitzordnung, andere Räume, im Schulgelände und außerhalb, außerschulische Lernorte. Und das Schulgebäude ist nicht nur von den Ergebnissen des Unterrichts in Bildender Kunst besetzt, es gibt gestaltete Mathe-Ecken, Ausstellungen, Plakate usw.

Zeit...

Statt festem Stundenplan: Projekttage, _stunden und _wochen, Epochalunterricht, Zeitabschnittspläne wie z. B. Wochenplanarbeit, Freiarbeitsphasen (z. B. in Kooperation mehrerer Fächer). Und nicht die Unterrichtsstunde ist die bestimmende Sequenz, sondern der thematische Kontext, d. h. man muss nicht in einer Stunde mit irgendwas „fertig" werden.

Lehrer...

Statt immer derselbe Unterrichtende: temporäre Mitlehrer und Teamteaching, Lehrertandems, außerschulische Experten und - vor allem - Schülerinnen und Schüler

Medien...

Statt immer nur Tafel, Heft, Schulbuch und Arbeitsblätter: Medienvielfalt, Computereinsatz, Klassenbibliothek (Fachbücher, andere Schulbücher, Mathe-Lexika, mathematische Schülerzeitschrift) und - vor allem - selbst erstellte Medien wie Lernkartei, Wandzeitung, Plakate, Spiele, Modelle ...

Fach...

Statt strenge Fachgebundenheit: fachübergreifendes Arbeiten, fachübergreifende Projekte, temporärer Zusammenschluss von Fächern (z. B. Mathe/Erdkunde: Unterrichtseinheit Gradnetz/Koordinatensystem oder Mathe/Erdkunde/Physik: Unterrichtseinheit Trigonometrie/Sonneneinstrahlung/Wärme). Diese Frage wird mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, weil die enge Fachgebundenheit längst überholt ist und wir mehr und mehr dazu bereit sein müssen, interdisziplinär zu denken und zu arbeiten.

 

Das Schulbuch im offenen Unterricht

Nachdem jetzt der Begriff „Offener MU" ein wenig beleuchtet wurde, sollten wir uns wieder dem Schulbuch zuwenden und der Frage „Ein gutes Schulbuch - was ist das?".

Im Hinblick auf Ansätze in Richtung offenerer Formen sollte ein Schulbuch doch schon einiges an Ideen, Anregungen und Materialien bieten, damit der Lehrer oder die Lehrerin nicht als Alleskönner und Entertainer gleich alles zusätzlich produzieren und bereitstellen muss.

Über die Jahrzehnte hinweg haben Schulbücher schon beträchtlich hinzugewonnen, z. B. hat sich das Layout verbessert, früher sehr dichte Texte wurden durch mehr Abbildungen, Farbe aufgelockert und bereichert.

Andererseits ist auch manches ausgereizt: Grafische Veranschaulichungen zum Beispiel finden sich in den meisten Schulbüchern weitestgehend deckungsgleich. Das mag nicht unbedingt daran liegen, dass die Autoren voneinander abschreiben, sondern daran, dass das Optimum in der Darstellung mit den Mitteln des Mediums Schulbuch erreicht worden ist.

Wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, was ein gutes Schulbuch auszeichnet, dann muss klar sein, dass es nicht nur darum geht, wie das Lehrwerk inhaltlich und methodisch aufgebaut und im Layout gestaltet ist, sondern natürlich auch darum, wie es die Lehrkraft einsetzt. Das beste Buch führt ein Schattendasein, wenn es nicht dauernd genutzt und benutzt wird!

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Wenn Schülern im Unterricht ein großer Fundus verschiedener Mathematikbücher zur Verfügung steht, werden offene Unterrichtsmethoden unterstützt.

 

Das Schulbuch als Arbeitsbuch

Im wahrsten Sinne des Wortes soll die Einsatzrate des Mathematikbuches möglichst hoch sein (am Ende des Schuljahres ist das Buch zerfleddert und kann nicht über ganze Schülergenerationen weitervererbt oder veräußert werden), die Lehrtexte werden genutzt, das Aufgabenangebot ausgeschöpft, die Schülerinnen und Schüler schlagen dort nach, benutzen es zur Wiederholung, zur Vorbereitung der Klassenarbeit usw.

Eine geeignete Übung, mit dem Buch (oder auch einer Formelsammlung) umgehen zu lernen, ist z. B. ein „Nachschlagerätsel". Sinn eines solchen Rätsels ist es, Nachschlagetechniken allgemein zu üben, den Aufbau des Buches kennen und nutzen zu lernen und einen ersten Einblick in den Stoff des Schuljahres zu gewinnen. Die Fragen zielen nicht auf Wissen, sondern müssen das Blättern im Buch „erzwingen". Hier spielt natürlich die Qualität der Gliederungshierarchie hinsichtlich Inhaltsverzeichnis, Sach- und Symbolverzeichnis sowie des Seitenlayouts eine besondere Rolle.

 

Gliederung und Layout

Dass Schülerinnen und Schüler sich in ihrem Buch auskennen, sich zurechtfinden, sich „heimisch" fühlen, mit der Symbolik vertraut sind usw., ist nicht nur eine Frage des Inhaltes, sondern ganz wesentlich abhängig vom Layout (aufgelockert, kurze Zeilen, wenig Text, sinnfällige Abbildungen, deren sinnfällige Platzierung, nicht überladen, ...) und auch der Gliederung (übersichtlich, einheitlich, wenig Gliederungselemente, wenig Gliederungssymbole, ...). Die „Meta-Sprache" des Buches zu lernen und zu behalten, sollte kein Problem sein.

Moderne Schulbücher besitzen eine übersichtliche Gliederung (z. B. Einstiegsaufgaben - Lehrtext - Aufgaben mit Lösungen - Aufgaben - Wiederholungsseiten usw.). Eine konsequente Realisierung einer solchen Struktur gewährleistet einen hohen Wiedererkennungsgrad.

Sie ist aber, das muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden, nicht deckungsgleich mit der unterrichtlichen Struktur; der Lehrtext ist als eine komprimierte Zusammenfassung nicht Ausgangspunkt sondern Ziel; und viele Schulbuchbenutzer meinen fälschlicherweise, sie müssten das, was auf der ersten Seite steht, auch als Ergebnis der ersten Unterrichtsstunde an der Tafel stehen haben.

In der Folge werden Begriffe und Regeln, die allmählich wachsen und reifen müssen, häufig viel zu früh und voreilig eingeführt, verursachen gleichsam im unreifen Zustand konsumiert doch einige Magenschmerzen. Nicht der Denkhorizont der Lehrkraft oder der Mathematik ist entscheidend und darf die Abläufe determinieren, sondern jener der Lerngruppe und was von dort aus logisch und sinnfällig ist.

 

Denkanstöße und Aufgaben

Dass (Muster-)Aufgaben mit Lösungen enthalten sind, das Aufgabenmaterial reichhaltig und differenziert sein und angemessene Steilheit im Schwierigkeitsgrad besitzen sollte, versteht sich von selbst. Dennoch sind in diesem Bereich noch einige Problemanzeigen gegeben, die eine nähere Betrachtung notwendig machen.

1. Die Einstiegsaufgaben sollten echte Denkanstöße bieten, nicht künstlich konstruiert sein, von den Lernenden auch selbständig bearbeitet werden können (z. B. als vorbereitende Hausaufgabe); sie sollen Zugänge bieten, aber nicht unbedingt das Problemfeld vollständig abdecken, nur ein „Hineinbohren" initiieren - eine zu große Bedeutung sollte man ihnen nicht beimessen.3

2. Auch bezüglich des sonstigen Aufgabenmaterials in Schulbüchern gibt's noch einiges tun: Allzu oft findet man künstlich konstruierte Anwendungen, Pseudo-Praxisbezüge oder fachidiotische Reduktionen durchaus interessanter und komplexer mathematischer Probleme.

Wenn in einer Aufgabe zwei Grundstücke mit unterschiedlichen Abmessungen zum selben Quadratmeter-Preis vorgegeben sind und die Frage gestellt wird „Für welches würdest du dich entscheiden?", dann darf nicht nur der Flächeninhalt, höchstens noch der Umfang (wegen des Straßefegens und der Zaunlänge) gefragt sein. Erschließungskosten, Verkehrsanbindung, Logistik, Nachbarschaft, Baumbestand, Sonneneinstrahlung, Bau-Auflagen u. a. m., was realiter bei einer Kaufentscheidung von Bedeutung ist, hat nicht außen vor zu bleiben, weil es nicht vom Fach ist.

3. Mit „offenen" Aufgaben, wie wir uns sie vorstellen, haben wir mit den Schulbuch-Redakteuren zugegebenermaßen so unsere Schwierigkeiten. Eine klare Frage muss her, so deren Auffassung; Aufgaben ohne Fragen, die aus der geschilderten Situation heraus vom Lernenden selbst gestellt werden sollen, stoßen oft auf entschiedene Ablehnung; nicht so sehr, weil die Redakteure nicht deren Sinn nachvollziehen könnten, sondern weil sie die geharnischte und Marktanteile kostende Kritik der Lehrerschaft fürchten: Da ist ja gar keine Frage gestellt ...!

 

Sprache und Logik

Dass in einem Schulbuch die fachliche Logik stimmen muss, versteht sich von selbst. Das „Haus der Mathematik" muss konsequent von unten Stein für Stein aufgebaut werden, und das erste Stockwerk kommt nach dem Erdgeschoss.

Ein Problem ist hier sicherlich, dass die Denkstrukturen nicht eindeutig sind, sondern vielfach unterschiedlich ausfallen und gesetzt werden können, und dass die Schülerinnen und Schüler über die Jahre hinweg mit verschiedenen Lehrkräften mit womöglich vielen Varianten konfrontiert werden. Aus diesem Grunde muss sowohl dem Lehrplan als auch dem Schulbuch eine gewisse Leitfunktion zugewiesen werden, gegen eigene Geschmäcker und individuelle Vorlieben.

Beispielsweise kann ein Parallelogramm als punktsymmetrisches Viereck definiert werden, woraus die Parallelität der Seiten folgt, es kann aber auch als Viereck mit parallelen Gegenseiten vereinbart werden, woraus die Punktsymmetrie abzuleiten ist. Und es geht nicht an, dass der eine das so und der andere das anders macht.

Wir plädieren also einerseits für fachlich-logische Stringenz - auch in der Begrifflichkeit, der Symbolik und besonders in der Sprache.

Dass Definitionen eine bestimmte sprachliche Struktur haben (z. B. die Verben „heißt" oder „nennt man" und das Objekt meist im Singular und am Satzende steht) und Sätze eine andere (z. B. die Verben „ist", „hat", „gilt", „beträgt" und das Objekt häufig am Satzanfang steht und auf eine Vielheit bezogen), muss konsequent beachtet werden und erscheint uns viel wichtiger als z. B. eine farbliche Kennzeichnung (Definition = grün, Satz = rot o.ä.).

Andererseits aber hat sich die Sprache der Mathematik-Schulbücher in den letzten Jahren weit entfernt von dem, was für normale Menschen (womit nicht gesagt sein soll, dass Mathematiklehrkräfte nicht normal seien) konsumierbar und verständlich ist. Hier plädieren wir also für eine sinnvolle Synthese zwischen umgangssprachlicher Lockerheit und fachsprachlicher Schärfe und Präzision nach dem Grundsatz „So viel Umgangssprache wie möglich, so viel Mathesprache wie nötig".4

 

Lehrplankonformität

Natürlich sollte es so sein, dass das Schulbuch zumindest in den globalen und klassenübergreifenden Stoffstrukturen lehrplankonform ist. Darüber hinaus treffen Lehrpläne im Allgemeinen keine Festlegungen hinsichtlich der Reihenfolge, in der die didaktische Struktur innerhalb eines Schuljahres entfaltet wird, sprechen höchstens Empfehlungen aus.

Ob im 9. Schuljahr zuerst die zentrische Streckung und dann auf dieser Basis die Strahlensätze behandelt werden oder ob man's umgekehrt macht, und wie die Ähnlichkeit dort verwurstelt wird, obliegt wohl pädagogischen Freiraum der Lehrkraft.

Die vielfältigen Möglichkeiten didaktischer Konstruktionen, welche die Fachlogik hier lässt, können in einem Schulbuch keinesfalls verifiziert werden; dort muss notwendigerweise eine bestimmte Stoffabfolge präsentiert werden.

Wenn es zum Satz des Pythagoras bis dato ca. 360 verschiedene Beweise gibt - im Schulbuch kann faktisch nur ein einziger stehen, welcher zudem dem logischen Konstrukt des Buches folgen muss.

Dass man lieber zuerst die Strahlensätze behandelt und dann die zentrische Streckung, es im Schulbuch aber umgekehrt gemacht wird, sollte daher kein Kriterium für die Beurteilung der Qualität eines Lehrwerks sein. Viel wichtiger erscheint uns, dass man sich tolerant der fachlichen Logik des Buches überlassen kann, ohne Gefahr zu laufen, etwas falsch zu machen.

Die Besichtigung anderer Schulbücher - Sie erinnern sich, dass diese in unserer Klassen-Bibliothek stehen - bringt ehedem andere Strukturen zu Tage, weitet den diesbezüglichen Horizont.

 

Modernität

Ein Schulbuch sollte natürlich sowohl methodisch als auch fachlich auf einem neuerem Stand sein (auch wenn es deswegen mitunter eines eigenen Umlernens bedarf und man seine Stundenkonzepte von anno dazumal der Papiermühle übereignen muss).

Methodisch modern heißt in Bezug auf offenen Unterricht, dass einschlägige Anregungen und Anknüpfungspunkte enthalten sind, die der Lehrkraft auch vielfältige Lernarrangements zur Verfügung stellen.

Fachlich modern bedeutet, dass das Buch fachlich und fachmethodisch auf der Höhe der Zeit ist.

Algorithmisches Denken, Tabellenkalkulationen, Hilfsmittel via Computer wie bestimmte Programme (Funktionsplotter, Programmiersprache LOGO, Konstruktionsprogramme wie Cabri Géomètre oder EUKLID, Konstruktionsbeschreibungen wie mit KONZ u. a. m.) müssen integrativer Bestandteil eines zeitgemäßen Mathematikunterrichts sein und demzufolge auch im Buch in allen möglichen Kontexten präsent sein.

Fachlich modern bedeutet aber auch, dass wir nicht immer wieder in die Steinzeit zurückfallen nach dem Stil „Jetzt tun wir `mal so, als hätten wir keinen Taschenrechner" (z. B. bei der näherungsweisen Bestimmung von Wurzelwerten via Intervallschachtelung) und Kulturtechniken (welche ja wohl ebenfalls einem Wandel unterliegen) höchst gefährdet sehen. Wir tun ja auch nicht gelegentlich so, als hätten wir kein Auto, sondern wir bedienen uns selbstverständlich der Errungenschaften unserer modernen Zeit.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass keine historischen Betrachtungen angestellt werden sollten. Dass es z. B. Rechenstäbe, Sinus- und Logarithmus_Tafeln gab und welche rechnerische Mühsal damit verbunden war, sollen die Kinder schon erfahren, denn das ist Bestandteil unserer Kulturgeschichte.

Wie im traditionell durchgeführten Mathematikunterricht spielt auch im offenen Unterricht das Buch ein große Rolle. Nur wird es hier anders genutzt, vor allem viel weiter genutzt als nur im Sinne einer Aufgabensammlung. Das Schöne ist: Wir brauchen gar keine neuen Bücher, wenn wir das Konzept unseres Unterrichts ändern wollen. Die Bücher sind da. Sollten Sie sich, lieber skeptischer Leser, nicht einen Stoß geben und sich an Neues wagen? Aber bitte nicht gleich zum großen Wurf ausholen, sondern in kleinen Schritten beginnen. Und am besten nicht allein. Fragen Sie doch mal im Kollegium: Vielleicht finden Sie jemand, der mitmacht.

1 Zumindest wusste der bekannte Buchautor Heinz Klippert auf die Frage, wie das denn in Mathe zu bewerkstelligen sei, auch nicht so recht zu antworten. Unsere Meinung: Wir sollten herunter von den hehren Vorstellungen jener, die mit der Wünschelrute durch den Klassensaal rennen und, wenn Schülerinnen und Schüler nur den kleinen Finger bewegen, von „Schlüsselqualifikationen" sprechen.
2 Wenn wir den Mathematikern vorschlagen, z. B. eine Wiederholung zu Beginn einer Stunde in der Form zu realisieren, dass in einem Doppelkreis je zwei Partner sich gegenüber sitzen, der eine dem anderen über die letzte Stunde erzählt und der andere nur zuhört (und nach einer Rutschbewegung das ganze nochmal, jetzt mit vertauschten Rollen), dann schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen: „Mein Gott, was die dann u. U. für'n Mist erzählen!". Aber uns geht's ganz entschieden darum, mit der Ware „Mathematik" kräftigen Umsatz zu erzielen, anstatt dass einer redet und alle zuhören oder auch nicht. Mathe-Lehrerinnen und -lehrer sehen häufig noch ihre Hauptaufgabe darin, auf die Jagd nach Fehlern zu gehen, sie sind zufrieden, wenn sie welche finden; Fehler als normale und legitime und auch notwendige Komponente menschlichen Lernens zu tolerieren, sie zu dulden und als prägende Elemente jeglichen wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses zu sehen, dringt erst allmählich in den MU ein.
3 Um Letzteres zu verstehen, müsste man an dieser Stelle einen Exkurs zum Stellenwert des Einstiegs machen, der unseres Erachtens in den pädagogischen Köpfen völlig überbewertet ist: Der voraussichtliche Erfolg oder Misserfolg einer Stunde wird davon abhängig gesehen, ob einem eine gute Einstiegsaufgabe einfällt, und Referendare verbringen erkleckliche Zeit ihrer Unterrichtsvorbereitung damit, Einstiege zu finden, die alle von den Sitzen reißen und hemmungslos motivieren (was sowieso nie eintrifft). Bessere „Einstiege" dagegen sind oft nur Bestandsaufnahmen: „was war unser Problem, ... wo sind wir, ... und was steht heute an?". Wir werden in Stunden oft nicht fertig und machen nächste Stunde einfach weiter. Dies geht natürlich nur, wenn die Probleme von genügender Breite, Tiefe und Vielfalt sind.
4 Die Erfahrung, die wir machen, wenn wir in Zeitschriften und Fachbüchern mit gedanklichen Fertigprodukten konfrontiert werden, statt mit den Niederungen und Irrungen auf dem Weg dorthin (der Satz „wie der Leser leicht nachvollziehen kann" hat uns während des Studiums manchen Schweiß gekostet), machen Schülerinnen und Schüler ebenso, wenn sie ihr Schulbuch zu lesen versuchen und sich durch pseudowissenschaftlichen Symbolismus kämpfen müssen.

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