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Offener
Mathematikunterricht? - Unmöglich! Geht nicht!"
Vor einigen Jahren, als die Gurus offenen
Unterrichts Scharen von Anhängern um sich zu sammeln begannen, hatten wir ein permanent
schlechtes Gewissen und das Gefühl, die moderne Pädagogik sei an uns und der Mathematik
vorübergegangen. In Deutsch und Sozialkunde, da gab es Gruppenarbeit, Diskussion,
Textarbeit, Fishbowl, Stationengespräch, Punktabfragen, Kugellager, ... (und was die dort
noch alles erfunden hatten), und uns war relativ unklar, wie wir das im Fach Mathematik
realisieren sollten...
Die Strahlensätze diskutieren zu lassen, schien uns doch arg abwegig, und schöne
mathematische Projekte scheiterten am Stoffpensum, am Zeitbedarf oder am Lehrplan.
Zum Glück wurde aber von der Mathematik nichts gefordert, weil sogar manche Verfechter
offenen Unterrichts die Offenheit mit der notwendigerweise strengen und damit auch engen
mathematischen Logik nicht so recht in Einklang zu bringen vermochten.1
Aber nach vielem Nachdenken und langen Diskussionen sind wir zur Überzeugung gekommen,
dass Offenheit und Strenge sich keineswegs ausschließen. Jetzt wissen wir, wie's geht,
und das wollen wir hier im Zusammenhang mit der Rolle des Schulbuchs darstellen.
Der Deutlichkeit wegen beginnen wir aber mit dem Kontrapunkt Traditioneller
Mathematikunterricht" und zeigen kurz seine charakteristischen Kennzeichen auf.
Im traditionellen"
Mathematikunterricht (MU) nimmt die Lehrkraft eine zentrale Rolle ein; wesentliche Impulse
gehen von ihr aus; es wird etwas gelehrt". Ein guter Mathematiklehrer ist
jener, der gut erklären kann. Es wird erklärt und dann geübt, zunächst vorgemacht und
dann nachgemacht.
Die Didaktik ist von den Aufgaben her determiniert; einer oder mehrerer
Einstiegsaufgaben folgt eine Vielzahl weiterer Aufgaben unterschiedlichen und sich
steigernden Schwierigkeitsgrades; die Schülerinnen und Schüler werden im Grunde
examiniert, ob sie das gerafft" haben. Das Schulbuch findet im Wesentlichen nur
Verwendung als Aufgaben-Pool (Hausaufgaben Seite ... Nummer ...). Und mit den im Buch
enthaltenen Lehrtexten wird kaum gearbeitet.
Das ist auch der Grund, weswegen die Qualiät eines Schulbuchs von den Lehrkräften oft
sehr stark vom Aufgabenmaterial her beurteilt wird. Es müssen genügend Aufgaben
angeboten werden, und das Lösungsbuch muss gut und möglichst fehlerfrei sein.
Insgesamt wird jedenfalls den Lernenden eine eher passive Rolle zugewiesen, und die
(angeblich) strenge Logik der Mathematik ist bezüglich offener Formen gleichsam
kontraproduktiv.
Typische Kennzeichen des traditionellen Mathematikunterrichts:
· Lehrstunde;
· Mathe als Fertigprodukt";
· Aufgabendidaktik;
· Schulbuch als Aufgaben-Pool;
· Struktur: |
vormachen |
-> nachmachen |
|
erklären |
-> üben; |
· gute" Lehrerinnen oder Lehrer
sind jene, die gut erklären" können;
· passive Rolle der Lernenden;
· Strenge Logik versus Offenheit.
Und jetzt zu unseren Vorstellungen eines
Offenen" Mathematikunterrichts: Bevor wir diesen charakterisieren, wollen wir,
damit's nicht zu theoretisch wird, ein erstes Beispiel geben dafür, wie die Schülerinnen
und Schüler stärker an der didaktischen Konzeption des Unterrichts beteiligt werden
können.
Zu Beginn eines jeden Schuljahres fertigt die Lehrkraft mit der Klasse einen
Arbeitsplan" für das ganze Schuljahr an. Ausgehend vom Lehrplan und den
dortigen Zeitansätzen und dem Kalendarium des Schuljahres erstellen Lehrer und Schüler
gemeinsam ein grobes Konzept für den Unterricht. In der Endfassung, die als Plakat im
Klassensaal aushängt, sind die Lernsequenzen des Lehrplans über das Schuljahr verteilt,
Termine für die Klassenarbeiten eingetragen usw. Schülerinnen und Schüler informieren
via Kurzreferat ihre Mitschüler, worum's denn bei den Themenbereichen so geht.
Das Maß der Beteiligung der Lerngruppe an der Erstellung dieser Grobverteilung hängt
natürlich von der Altersgruppe ab, und die Schüler müssen mit dieser Vorgehensweise
erst vertraut gemacht werden.
Und dieses Vorgehen kann sogar beibehalten werden, wenn eine neue Unterrichtseinheit
ansteht. Anhand des Schulbuches verschaffen wir uns einen Überblick, welche Teilthemen
wir bearbeiten müssen. Die Klasse fertigt Kartonstreifen, auf denen die Überschriften
vermerkt sind, die dann in den drei Rubriken ... schon erledigt", ... was
noch zu tun ist" und ... woran wir gerade arbeiten" nach jeweils aktuellem
Stand aufgehängt sind.
Außerdem gibt es eine Zeitleiste, und zu jedem bearbeiteten Thema werden Spezialisten
benannt, die sich dort besonders gut auskennen, z B. dadurch, dass sie referiert, in
anderen Schulbüchern und in Mathe-Zeitschriften usw. nachgelesen, sich also weitergehend
sachkundig gemacht haben.
Die Auseinandersetzung z. B. mit anderen Schulbüchern öffnet zugleich die engen
Grenzen, die ein einzelnes Lehrbuch notwendigerweise setzen muss. In unserer
Mathe-Bibliothek im Klassensaal stehen zu diesem Zweck unter anderem alle zugelassenen
Lehrbücher der betreffenden Klassenstufe.
Die Absicht ist, Schülerinnen und Schüler aus ihrer duldsam-passiven Rolle und dem
Schubladendenken" einzelner Unterrichtsstunden herauszulösen und an der
Verantwortung für die didaktische Logistik des Unterrichts zu beteiligen, indem sie
wenigstens den jeweiligen Kontext überschauen.
Auch wenn Sie, liebe Leser, skeptisch sein mögen - es funktioniert!
Selbstverständlich ist das Maß der Beteiligung und Verantwortung altersstufengerecht zu
setzen.
Wir möchten an die mögliche Skepsis eine ganz grundsätzliche These anknüpfen: Wenn
man sich in der mathematischen Schullandschaft umschaut, registriert man vielerorts immer
lauter werdende Klagen wie Die werden immer schlechter ..." oder Wenn ich
die Arbeit von vor 5 Jahren heute schreiben würde - mein Gott ...".
In Konsequenz dessen und aus der Not heraus werden die Häppchen in noch kleinere
Portionen geteilt, noch besser vorgekaut - um letztlich festzustellen, dass es doch nichts
fruchtet.
Wir denken, genau der entgegengesetzte Weg muss beschritten werden, um aus diesem
Dilemma herauszukommen. Wir müssen den Schülerinnen und Schülern wieder mehr zutrauen:
die Häppchen nicht kleiner, sondern größer machen, sie in die Verantwortung nehmen, aus
der Konsumentenhaltung und dem Konsum von Fertigprodukten" herauslösen.
Nicht nur Sachkompetenz, sondern auch Sozialkompetenz und insbesondere
Methodenkompetenz sollten wir anstreben, und zwar Methodenkompetenz in Bezug auf
Fachmethodik wie auch auf Methoden des geistigen Arbeitens und des Lernens.
Das hört sich an, als sei Revolutionäres zu bewerkstelligen. Das ist es nicht, oder
besser gesagt, zunächst nicht. Denn auch hier möchten wir dafür plädieren,
kleine Brötchen zu backen", bescheidene Anfänge zu suchen, kleine Schritte zu
gehen, nicht von heute auf morgen alles anders machen zu wollen und Misserfolge
einzukalkulieren und zu ertragen bereit sein. nterrichtsfächer
Betrachtet man die konstituierenden
Elemente des Unterrichts, so erhält man vielerlei Anregungen, was denn
offener" sein kann, wie enge Grenzen verlassen werden könnten.
inhaltlich...
Statt Themenfolgen nach Buch oder Lehrplan und der enzyklopädischen Anhäufung von
Wissen und dem Füllen des Wissensrucksacks: Themenfolgen nach Sinnzusammenhang, nach
Bedürfnis, nach aktuellen Angeboten, nach mathematischen Strukturen und Leitbegriffen,
projektartig angelegt.
didaktisch...
Statt Ablauf nach Buch oder tradiertem Konzept oder festem logischem Gefüge: Ablauf
nach genetischen Zusammenhängen, nach eigener Wahl in Freiarbeit, in größeren Kontexten
in Projekten (wenn z. B. im Schulbuch die grafische Lösung quadratischer Gleichungen
behandelt wird, braucht man die Parabel; deswegen steht sie im Buch vorneweg; von der
Lernpsychologie her ist dies aber nicht unbedingt eine sinnvolle Abfolge: was später
gebraucht wird, muss nicht vorher behandelt sein, sondern wird erst dann betrachtet,
wenn's eben gebraucht wird). Die Didaktik des Schulbuches ist also im Allgemeinen nicht
deckungsgleich mit der Didaktik des Unterrichts.
methodisch...
Statt Lehrervortrag, statt Erklären und Vormachen, statt
Erarbeitungsunterricht": Entdeckendes Lernen und Selbsttätigkeit,
Variation von Arbeitsmaterialien und Arbeitsformen. Hier sei etwa auf die Möglichkeit
hingewiesen, geeignete Stoffgebiete teilweise im Gruppenreferat erarbeiten zu lassen. 2
Sozialform...
Statt lehrerzentriertem Frontalunterricht: Zurückziehen der Lehrkraft (es gibt
z. B. Rotlichtphasen"); der Lehrer organisiert, moderiert, stellt
Lernarrangements zur Verfügung. Nicht der Lehrkraft, sondern den Schülerinnen und
Schülern soll der Schweiß auf der Stirn stehen. Wenn bei den Schülern geschäftiges
Treiben herrscht, hat die Lehrkraft Zeit, Dinge zu erledigen - z. B. zu helfen, zu
bewerten, - zu denen sie sonst kaum kommt, wenn sie die ganze Stunde als der große
Zampano" vorne agiert und für alles und jedes zuständig und verantwortlich ist.
Ort...
Statt feste Sitzordnung in immer demselben Saal: arbeits- und sozialformgerechte
Sitzordnung, andere Räume, im Schulgelände und außerhalb, außerschulische Lernorte.
Und das Schulgebäude ist nicht nur von den Ergebnissen des Unterrichts in Bildender Kunst
besetzt, es gibt gestaltete Mathe-Ecken, Ausstellungen, Plakate usw.
Zeit...
Statt festem Stundenplan: Projekttage, _stunden und _wochen, Epochalunterricht,
Zeitabschnittspläne wie z. B. Wochenplanarbeit, Freiarbeitsphasen (z. B. in Kooperation
mehrerer Fächer). Und nicht die Unterrichtsstunde ist die bestimmende Sequenz, sondern
der thematische Kontext, d. h. man muss nicht in einer Stunde mit irgendwas
fertig" werden.
Lehrer...
Statt immer derselbe Unterrichtende: temporäre Mitlehrer und Teamteaching,
Lehrertandems, außerschulische Experten und - vor allem - Schülerinnen und Schüler
Medien...
Statt immer nur Tafel, Heft, Schulbuch und Arbeitsblätter: Medienvielfalt,
Computereinsatz, Klassenbibliothek (Fachbücher, andere Schulbücher, Mathe-Lexika,
mathematische Schülerzeitschrift) und - vor allem - selbst erstellte Medien wie
Lernkartei, Wandzeitung, Plakate, Spiele, Modelle ...
Fach...
Statt strenge Fachgebundenheit: fachübergreifendes Arbeiten, fachübergreifende
Projekte, temporärer Zusammenschluss von Fächern (z. B. Mathe/Erdkunde:
Unterrichtseinheit Gradnetz/Koordinatensystem oder Mathe/Erdkunde/Physik:
Unterrichtseinheit Trigonometrie/Sonneneinstrahlung/Wärme). Diese Frage wird mehr und
mehr an Bedeutung gewinnen, weil die enge Fachgebundenheit längst überholt ist und wir
mehr und mehr dazu bereit sein müssen, interdisziplinär zu denken und zu arbeiten.
Nachdem jetzt der Begriff Offener
MU" ein wenig beleuchtet wurde, sollten wir uns wieder dem Schulbuch zuwenden und der
Frage Ein gutes Schulbuch - was ist das?".
Im Hinblick auf Ansätze in Richtung offenerer Formen sollte ein Schulbuch doch schon
einiges an Ideen, Anregungen und Materialien bieten, damit der Lehrer oder die Lehrerin
nicht als Alleskönner und Entertainer gleich alles zusätzlich produzieren und
bereitstellen muss.
Über die Jahrzehnte hinweg haben Schulbücher schon beträchtlich hinzugewonnen, z. B.
hat sich das Layout verbessert, früher sehr dichte Texte wurden durch mehr Abbildungen,
Farbe aufgelockert und bereichert.
Andererseits ist auch manches ausgereizt: Grafische Veranschaulichungen zum Beispiel
finden sich in den meisten Schulbüchern weitestgehend deckungsgleich. Das mag nicht
unbedingt daran liegen, dass die Autoren voneinander abschreiben, sondern daran, dass das
Optimum in der Darstellung mit den Mitteln des Mediums Schulbuch erreicht worden ist.
Wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, was ein gutes Schulbuch auszeichnet, dann
muss klar sein, dass es nicht nur darum geht, wie das Lehrwerk inhaltlich und methodisch
aufgebaut und im Layout gestaltet ist, sondern natürlich auch darum, wie es die Lehrkraft
einsetzt. Das beste Buch führt ein Schattendasein, wenn es nicht dauernd genutzt und
benutzt wird!
Wenn
Schülern im Unterricht ein großer Fundus verschiedener Mathematikbücher zur Verfügung
steht, werden offene Unterrichtsmethoden unterstützt.
Im wahrsten Sinne des Wortes soll die
Einsatzrate des Mathematikbuches möglichst hoch sein (am Ende des Schuljahres ist das
Buch zerfleddert und kann nicht über ganze Schülergenerationen weitervererbt oder
veräußert werden), die Lehrtexte werden genutzt, das Aufgabenangebot ausgeschöpft, die
Schülerinnen und Schüler schlagen dort nach, benutzen es zur Wiederholung, zur
Vorbereitung der Klassenarbeit usw.
Eine geeignete Übung, mit dem Buch (oder auch einer Formelsammlung) umgehen zu lernen,
ist z. B. ein Nachschlagerätsel". Sinn eines solchen Rätsels ist es,
Nachschlagetechniken allgemein zu üben, den Aufbau des Buches kennen und nutzen zu lernen
und einen ersten Einblick in den Stoff des Schuljahres zu gewinnen. Die Fragen zielen
nicht auf Wissen, sondern müssen das Blättern im Buch erzwingen". Hier spielt
natürlich die Qualität der Gliederungshierarchie hinsichtlich Inhaltsverzeichnis, Sach-
und Symbolverzeichnis sowie des Seitenlayouts eine besondere Rolle.
Dass Schülerinnen und Schüler sich in
ihrem Buch auskennen, sich zurechtfinden, sich heimisch" fühlen, mit der
Symbolik vertraut sind usw., ist nicht nur eine Frage des Inhaltes, sondern ganz
wesentlich abhängig vom Layout (aufgelockert, kurze Zeilen, wenig Text, sinnfällige
Abbildungen, deren sinnfällige Platzierung, nicht überladen, ...) und auch der
Gliederung (übersichtlich, einheitlich, wenig Gliederungselemente, wenig
Gliederungssymbole, ...). Die Meta-Sprache" des Buches zu lernen und zu
behalten, sollte kein Problem sein.
Moderne Schulbücher besitzen eine übersichtliche Gliederung (z. B. Einstiegsaufgaben
- Lehrtext - Aufgaben mit Lösungen - Aufgaben - Wiederholungsseiten usw.). Eine
konsequente Realisierung einer solchen Struktur gewährleistet einen hohen
Wiedererkennungsgrad.
Sie ist aber, das muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden, nicht deckungsgleich mit
der unterrichtlichen Struktur; der Lehrtext ist als eine komprimierte Zusammenfassung
nicht Ausgangspunkt sondern Ziel; und viele Schulbuchbenutzer meinen fälschlicherweise,
sie müssten das, was auf der ersten Seite steht, auch als Ergebnis der ersten
Unterrichtsstunde an der Tafel stehen haben.
In der Folge werden Begriffe und Regeln, die allmählich wachsen und reifen müssen,
häufig viel zu früh und voreilig eingeführt, verursachen gleichsam im unreifen Zustand
konsumiert doch einige Magenschmerzen. Nicht der Denkhorizont der Lehrkraft oder der
Mathematik ist entscheidend und darf die Abläufe determinieren, sondern jener der
Lerngruppe und was von dort aus logisch und sinnfällig ist.
Dass (Muster-)Aufgaben mit Lösungen
enthalten sind, das Aufgabenmaterial reichhaltig und differenziert sein und angemessene
Steilheit im Schwierigkeitsgrad besitzen sollte, versteht sich von selbst. Dennoch sind in
diesem Bereich noch einige Problemanzeigen gegeben, die eine nähere Betrachtung notwendig
machen.
1. Die Einstiegsaufgaben sollten echte Denkanstöße bieten, nicht künstlich
konstruiert sein, von den Lernenden auch selbständig bearbeitet werden können (z. B. als
vorbereitende Hausaufgabe); sie sollen Zugänge bieten, aber nicht unbedingt das
Problemfeld vollständig abdecken, nur ein Hineinbohren" initiieren - eine zu
große Bedeutung sollte man ihnen nicht beimessen.3
2. Auch bezüglich des sonstigen Aufgabenmaterials in Schulbüchern gibt's noch einiges
tun: Allzu oft findet man künstlich konstruierte Anwendungen, Pseudo-Praxisbezüge oder
fachidiotische Reduktionen durchaus interessanter und komplexer mathematischer Probleme.
Wenn in einer Aufgabe zwei Grundstücke mit unterschiedlichen Abmessungen zum selben
Quadratmeter-Preis vorgegeben sind und die Frage gestellt wird Für welches würdest
du dich entscheiden?", dann darf nicht nur der Flächeninhalt, höchstens noch der
Umfang (wegen des Straßefegens und der Zaunlänge) gefragt sein. Erschließungskosten,
Verkehrsanbindung, Logistik, Nachbarschaft, Baumbestand, Sonneneinstrahlung, Bau-Auflagen
u. a. m., was realiter bei einer Kaufentscheidung von Bedeutung ist, hat nicht außen vor
zu bleiben, weil es nicht vom Fach ist.
3. Mit offenen" Aufgaben, wie wir uns sie vorstellen, haben wir mit den
Schulbuch-Redakteuren zugegebenermaßen so unsere Schwierigkeiten. Eine klare Frage muss
her, so deren Auffassung; Aufgaben ohne Fragen, die aus der geschilderten Situation heraus
vom Lernenden selbst gestellt werden sollen, stoßen oft auf entschiedene Ablehnung; nicht
so sehr, weil die Redakteure nicht deren Sinn nachvollziehen könnten, sondern weil sie
die geharnischte und Marktanteile kostende Kritik der Lehrerschaft fürchten: Da ist ja
gar keine Frage gestellt ...!
Dass in einem Schulbuch die fachliche Logik
stimmen muss, versteht sich von selbst. Das Haus der Mathematik" muss
konsequent von unten Stein für Stein aufgebaut werden, und das erste Stockwerk kommt nach
dem Erdgeschoss.
Ein Problem ist hier sicherlich, dass die Denkstrukturen nicht eindeutig sind, sondern
vielfach unterschiedlich ausfallen und gesetzt werden können, und dass die Schülerinnen
und Schüler über die Jahre hinweg mit verschiedenen Lehrkräften mit womöglich vielen
Varianten konfrontiert werden. Aus diesem Grunde muss sowohl dem Lehrplan als auch dem
Schulbuch eine gewisse Leitfunktion zugewiesen werden, gegen eigene Geschmäcker und
individuelle Vorlieben.
Beispielsweise kann ein Parallelogramm als punktsymmetrisches Viereck definiert werden,
woraus die Parallelität der Seiten folgt, es kann aber auch als Viereck mit parallelen
Gegenseiten vereinbart werden, woraus die Punktsymmetrie abzuleiten ist. Und es geht nicht
an, dass der eine das so und der andere das anders macht.
Wir plädieren also einerseits für fachlich-logische Stringenz - auch in der
Begrifflichkeit, der Symbolik und besonders in der Sprache.
Dass Definitionen eine bestimmte sprachliche Struktur haben (z. B. die Verben
heißt" oder nennt man" und das Objekt meist im Singular und am
Satzende steht) und Sätze eine andere (z. B. die Verben ist", hat",
gilt", beträgt" und das Objekt häufig am Satzanfang steht und auf
eine Vielheit bezogen), muss konsequent beachtet werden und erscheint uns viel wichtiger
als z. B. eine farbliche Kennzeichnung (Definition = grün, Satz = rot o.ä.).
Andererseits aber hat sich die Sprache der Mathematik-Schulbücher in den letzten
Jahren weit entfernt von dem, was für normale Menschen (womit nicht gesagt sein soll,
dass Mathematiklehrkräfte nicht normal seien) konsumierbar und verständlich ist. Hier
plädieren wir also für eine sinnvolle Synthese zwischen umgangssprachlicher Lockerheit
und fachsprachlicher Schärfe und Präzision nach dem Grundsatz So viel
Umgangssprache wie möglich, so viel Mathesprache wie nötig".4
Natürlich sollte es so sein, dass das
Schulbuch zumindest in den globalen und klassenübergreifenden Stoffstrukturen
lehrplankonform ist. Darüber hinaus treffen Lehrpläne im Allgemeinen keine Festlegungen
hinsichtlich der Reihenfolge, in der die didaktische Struktur innerhalb eines Schuljahres
entfaltet wird, sprechen höchstens Empfehlungen aus.
Ob im 9. Schuljahr zuerst die zentrische Streckung und dann auf dieser Basis die
Strahlensätze behandelt werden oder ob man's umgekehrt macht, und wie die Ähnlichkeit
dort verwurstelt wird, obliegt wohl pädagogischen Freiraum der Lehrkraft.
Die vielfältigen Möglichkeiten didaktischer Konstruktionen, welche die Fachlogik hier
lässt, können in einem Schulbuch keinesfalls verifiziert werden; dort muss
notwendigerweise eine bestimmte Stoffabfolge präsentiert werden.
Wenn es zum Satz des Pythagoras bis dato ca. 360 verschiedene Beweise gibt - im
Schulbuch kann faktisch nur ein einziger stehen, welcher zudem dem logischen Konstrukt des
Buches folgen muss.
Dass man lieber zuerst die Strahlensätze behandelt und dann die zentrische Streckung,
es im Schulbuch aber umgekehrt gemacht wird, sollte daher kein Kriterium für die
Beurteilung der Qualität eines Lehrwerks sein. Viel wichtiger erscheint uns, dass man
sich tolerant der fachlichen Logik des Buches überlassen kann, ohne Gefahr zu laufen,
etwas falsch zu machen.
Die Besichtigung anderer Schulbücher - Sie erinnern sich, dass diese in unserer
Klassen-Bibliothek stehen - bringt ehedem andere Strukturen zu Tage, weitet den
diesbezüglichen Horizont.
Ein Schulbuch sollte natürlich sowohl
methodisch als auch fachlich auf einem neuerem Stand sein (auch wenn es deswegen mitunter
eines eigenen Umlernens bedarf und man seine Stundenkonzepte von anno dazumal der
Papiermühle übereignen muss).
Methodisch modern heißt in Bezug auf offenen Unterricht, dass einschlägige
Anregungen und Anknüpfungspunkte enthalten sind, die der Lehrkraft auch vielfältige
Lernarrangements zur Verfügung stellen.
Fachlich modern bedeutet, dass das Buch fachlich und fachmethodisch auf der
Höhe der Zeit ist.
Algorithmisches Denken, Tabellenkalkulationen, Hilfsmittel via Computer wie bestimmte
Programme (Funktionsplotter, Programmiersprache LOGO, Konstruktionsprogramme wie Cabri
Géomètre oder EUKLID, Konstruktionsbeschreibungen wie mit KONZ u. a. m.) müssen
integrativer Bestandteil eines zeitgemäßen Mathematikunterrichts sein und demzufolge
auch im Buch in allen möglichen Kontexten präsent sein.
Fachlich modern bedeutet aber auch, dass wir nicht immer wieder in die Steinzeit
zurückfallen nach dem Stil Jetzt tun wir `mal so, als hätten wir keinen
Taschenrechner" (z. B. bei der näherungsweisen Bestimmung von Wurzelwerten via
Intervallschachtelung) und Kulturtechniken (welche ja wohl ebenfalls einem Wandel
unterliegen) höchst gefährdet sehen. Wir tun ja auch nicht gelegentlich so, als hätten
wir kein Auto, sondern wir bedienen uns selbstverständlich der Errungenschaften unserer
modernen Zeit.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass keine historischen Betrachtungen angestellt werden
sollten. Dass es z. B. Rechenstäbe, Sinus- und Logarithmus_Tafeln gab und welche
rechnerische Mühsal damit verbunden war, sollen die Kinder schon erfahren, denn das ist
Bestandteil unserer Kulturgeschichte.
Wie im traditionell durchgeführten Mathematikunterricht spielt auch im offenen
Unterricht das Buch ein große Rolle. Nur wird es hier anders genutzt, vor allem viel
weiter genutzt als nur im Sinne einer Aufgabensammlung. Das Schöne ist: Wir brauchen gar
keine neuen Bücher, wenn wir das Konzept unseres Unterrichts ändern wollen. Die Bücher
sind da. Sollten Sie sich, lieber skeptischer Leser, nicht einen Stoß geben und sich an
Neues wagen? Aber bitte nicht gleich zum großen Wurf ausholen, sondern in kleinen
Schritten beginnen. Und am besten nicht allein. Fragen Sie doch mal im Kollegium:
Vielleicht finden Sie jemand, der mitmacht.
1
Zumindest wusste der bekannte Buchautor Heinz Klippert auf die Frage, wie das denn in
Mathe zu bewerkstelligen sei, auch nicht so recht zu antworten. Unsere Meinung: Wir
sollten herunter von den hehren Vorstellungen jener, die mit der Wünschelrute durch den
Klassensaal rennen und, wenn Schülerinnen und Schüler nur den kleinen Finger bewegen,
von Schlüsselqualifikationen" sprechen.
2 Wenn
wir den Mathematikern vorschlagen, z. B. eine Wiederholung zu Beginn einer Stunde in der
Form zu realisieren, dass in einem Doppelkreis je zwei Partner sich gegenüber sitzen, der
eine dem anderen über die letzte Stunde erzählt und der andere nur zuhört (und nach
einer Rutschbewegung das ganze nochmal, jetzt mit vertauschten Rollen), dann schlagen sie
die Hände über dem Kopf zusammen: Mein Gott, was die dann u. U. für'n Mist
erzählen!". Aber uns geht's ganz entschieden darum, mit der Ware
Mathematik" kräftigen Umsatz zu erzielen, anstatt dass einer redet und alle
zuhören oder auch nicht. Mathe-Lehrerinnen und -lehrer sehen häufig noch ihre
Hauptaufgabe darin, auf die Jagd nach Fehlern zu gehen, sie sind zufrieden, wenn sie
welche finden; Fehler als normale und legitime und auch notwendige Komponente menschlichen
Lernens zu tolerieren, sie zu dulden und als prägende Elemente jeglichen
wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses zu sehen, dringt erst allmählich in den MU ein.
3 Um
Letzteres zu verstehen, müsste man an dieser Stelle einen Exkurs zum Stellenwert des
Einstiegs machen, der unseres Erachtens in den pädagogischen Köpfen völlig
überbewertet ist: Der voraussichtliche Erfolg oder Misserfolg einer Stunde wird davon
abhängig gesehen, ob einem eine gute Einstiegsaufgabe einfällt, und Referendare
verbringen erkleckliche Zeit ihrer Unterrichtsvorbereitung damit, Einstiege zu finden, die
alle von den Sitzen reißen und hemmungslos motivieren (was sowieso nie eintrifft).
Bessere Einstiege" dagegen sind oft nur Bestandsaufnahmen: was war unser
Problem, ... wo sind wir, ... und was steht heute an?". Wir werden in Stunden oft
nicht fertig und machen nächste Stunde einfach weiter. Dies geht natürlich nur, wenn die
Probleme von genügender Breite, Tiefe und Vielfalt sind.
4 Die
Erfahrung, die wir machen, wenn wir in Zeitschriften und Fachbüchern mit gedanklichen
Fertigprodukten konfrontiert werden, statt mit den Niederungen und Irrungen auf dem Weg
dorthin (der Satz wie der Leser leicht nachvollziehen kann" hat uns während
des Studiums manchen Schweiß gekostet), machen Schülerinnen und Schüler ebenso, wenn
sie ihr Schulbuch zu lesen versuchen und sich durch pseudowissenschaftlichen Symbolismus
kämpfen müssen.
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