Lieber Kollege Lind, bei der Frage der Verbreitung offenen Unterrichts fühle ich mich angesprochen! Seit Jahren arbeite ich in diesem Bereich, u.a. durch eine Studie an Realschulen Baden-Württembergs mit 674 Lehrkräften. Zur Anregung erlaube ich mir folgende Hinweise: - Die Verbreitung ist offenen Unterrichts an staatlichen Sekundarschulen ist gering. Für Realschule ergab dies die o.g. Studie. Am häufigsten wird noch Freiarbeit praktiziert, allerdings auch nur von sehr wenigen Lehrkräften: Nur 3,6% der befragten Lehrkräfte praktizieren Freiarbeit häufiger als drei Stunden pro Woche. Die Studie ist in ihrer Anlage zudem noch optimistisch, weil sie direkt an 'unterrichtsmethodisch engagierte' Lehrkräfte gerichtet ist. Bezogen auf die Gesamtverbreitung offenen Unterrichts muss man von einer noch selteneren Anwendung ausgehen. Wochenplanarbeit beispielsweise, wird schlicht nicht praktiziert. - Eine Studie an Hauptschulen (Engelhardt, H. (2000): Die Hauptschule - Standortbestimmung und Perspektiven. Hamburg: Dr. Kovac) kommt zu ähnlichen Ergebnissen. - Wenn ich die gegenwärtige Situation richtig einschätze, so kann man an staatlichen Sekundarschulen (an Grundschulen oder Privatschulen sieht die Situation z.T. anders aus) nicht davon ausgehen, dass offener Unterricht zunehmend praktiziert würde. Ich beobachte eher konträre Entwicklungen: Während an manchen Schulen die 'häufige' Anwendung von offenem Unterricht (v.a. Freiarbeit) stabil bleibt (allerdings immer nur bei einem hier besonders engagierten Teil des Kollegiums), sehr selten noch ausgeweitet wird, bricht die 'Freiarbeitseuphorie' an anderen Schulen eher ein. - Insgesamt ist es wohl so, dass nur äußerst selten eine konsequente Veränderung des Unterrichts erfolgt, d.h. über mehrere Jahre hinweg kontinuierlich das Ausmaß an selbständigem Lernen (in offenen Arrangements) erhöht wird. D.h. offener Unterricht verbleibt an staatlichen Sekundarschulen häufig in ausgegliederten Nischen (z.B. Projektwoche, 2 Stunden Freiarbeit pro Woche, gelegentlicher Lernzirkel), bei gleichzeitiger Dominanz des Frontalunterrichts. Oberhalb dieser Nischen setzt eine Art 'Quantensprung' ein - die Vorteile offenen Unterrichts wirken dann langfristig nachhaltiger (so meine Einschätzung). Es kommt zu einer Veränderung des 'heimlichen Lehrplans'. Hinzu kommt: Offener Unterricht fand bisher fast ausschließlich in den Klassen 5 und 6 statt. Möglicherweise verändert sich dies durch neuere Reformen (z.B. die Projektprüfung an Hauptschulen). - Als dringlichste Aufgabe der Unterrichtsentwicklung sehe ich die Arbeit an der Gesamtchoreographie des Unterrichts an. Offener Unterricht ist in einer langfristigen Gesamtkonzeption des Unterrichts innerhalb der Einzelschule zu entwickeln, mit dem Ziel der permanenten Ausweitung des Anteil an selbstständigen Lernphasen. Genau dies ist jedoch an Sekundarschulen äußerst schwierig (Fachlehrersystem, Kooperationsbereitschaft, Konsensfähigkeit bei Schulprogrammarbeit etc.). Offener Unterricht wird hier zum Thema der Schulentwicklung. - Die geringe Verbreitung hängt m.E. zudem mit dem lange ungelösten Verhältnis von offenem Unterricht und Leistungsbeurteilung (an staatlichen Sekundarschulen) zusammen. Ebenso fehlt schlicht die Energie, Bereitschaft und/oder Kompetenz die eigene, biographisch gefestigte Unterrichtsplanung und -durchführung kontinuierlich zu entwickeln. - Untersuchungen zur Verbreitung offenen Unterrichts sind der deskriptiven Unterrichtsmethodenforschung zuzuordnen . Dieses Feld ist weitgehend unerforscht. Die häufigsten Forschungsdesigns sind so angelegt, dass Sie die Anwendungshäufigkeit über eine Dreierskalierung (z.B.: häufig, gelegentlich, selten oder nie) untersuchen. Das ist forschungsmethodisch recht leicht möglich (z.B wurden auf diese Weise im Rahmen von PISA Schulleiter/innen befragt), allerdings auch weitgehend aussagelos weil unklar bleibt, in welchem Ausmaß, bezogen auf die gesamte Unterrichtszeit, bezogen auf das gesamte Kollegium oder bezogen auf das Deputat von einzelnen Lehrkräften die Aussagen gemeint sind. Zudem tritt hier die soziale Erwünschtheit deutlich hervor, z.B. kann es sich ein Schulleiter kaum leisten zuzugeben, dass an seiner Schule 'nie' oder 'sehr selten' offen unterrichtet wird. Forschungsmethodisch wäre es besonders ergiebig, über einen längeren Zeitraum hinweg den Unterricht an Einzelschulen zu beobachten (ähnlich wie Hage u.a. 1985) um auch Unterschiede in der Konzeption herausarbeiten zu können - das ist wiederum sehr aufwändig. Falls Interesse besteht: Anbei übersende ich per Anhang eine Kurzfassung der genannten Studie, sowie einen Beitrag zum Verhältnis von Leistungsbeurteilung und offenem Unterricht (ausführlich: Bohl, T. (2001): Prüfen und Bewerten im offenen Unterricht. erscheint vor. Ende 2003 im Beltz Verlag). Freundliche Grüße von Thorsten Bohl georg lind wrote: Der Kollege Axel Wieland von der Universität Oldenburg hat mir gerade eine neuere Schätzung der Zahl der Kindergärten in Deutschland durchgegeben, die nach dem Konzept der "offenen Arbeit" organisiert sind. Demnach habe ich mich um ein Null zu wenig verschätzt. Es seien bereits ca. 10.000 Kindergärten! Angesichts der Tatsache, dass diese Entwicklung als "grassroot"-Bewegung läuft, und bereits lange vor PISA und ohne Mediengetöse angefangen hat, ist das sehr bemerkenswert. Hieran schließt sich schon das sich ausbreitende Konzept des offenen Unterrichts an, wie er von den Kollegen Brüggelmann, Peschel und anderen mit angestoßen, wissenschaftlich evaluiert und ermutigt wird. Es wäre interessant zu wissen, ob und inwieweit die Schulen der Sekundarstufe (Haupt-, Real-, Gesamtschule und Gymnasium) auch solche Konzepte ausprobieren oder schon eingeführt haben. GL ---------------------------------------------- Der Inhalt dieses Bildungs-Infos wird vom jeweiligen Autor verantwortet. Der Versender übernimmt keinerlei Haftung für die Richtigkeit des Inhalts und für die darin geäußerte Meinung. Bitte das jeweilige Copyright beachten und bei Zitation die urspüngliche Quelle nennen. Eigenbeiträge können frei verwendet werden. Das Bildungs-Info erscheint in unregelmäßig Abständen und informiert über aktuelle Ergebnisse bildungsrelevanter Forschung. Es ist kostenlos und richtet sich an einen kleinen Kreis. Wenn Sie es nicht mehr erhalten möchten, teilen Sie mir das bitte formlos mit. Georg Lind Web site: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/ ------------------------------------------------------------ Das Konstanzer Bildungs-Info erscheint in unregelmäßigen Abständen und informiert über aktuelle Ergebnisse bildungsrelevanter Forschung. Hinweise der Leser sind willkommen. Herausgeber und Redaktion: Prof. Dr. Georg Lind FB Psychologie University of Konstanz 78457 Konstanz, Germany Phone +49-7531 882895 Fax +49-7531 882899 Web site: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/ -- Dr. Thorsten Bohl Mail: thorsten.bohl@uni-tuebingen.de Pädagogische Hochschule Weingarten Fakultät 1/ Schulpädagogik Kirchplatz 2 88250 Weingarten T.0751/501-8420 Fax. 0751/501-8247 priv. Tübinger Str. 68 72762 Reutlingen T. 07121/337689 Bohl - Leistungsbeurteilung im offenen Unterricht.doc Bohl - Verbreitung von offenem Unterricht.doc